Starken Reformbedarf sehen sie beim Asyl-System auf EU-Ebene, wo das Dublin-Verfahren zwar nicht aufgegeben, aber weiterentwickelt und ergänzt werden müsse. Die Erstaufnahmestaaten brauchten mehr finanzielle Entlastung und die Verteilung der Flüchtlinge müsse von den EU-Mitgliedsstaaten solidarischer mitgetragen werden.
Das SVR-Jahresgutachten enthält im Kern folgende Botschaften:
Ein internationaler Vergleich zwischen der Migrations- und Integrationspolitik Deutsch-lands und der ausgewählter EU-Staaten sowie klassischer Einwanderungsländer wie Ka-nada und den USA bringt ein doppeltes Ergebnis: Er zeigt zum einen, dass Deutschland sich mittlerweile im internationalen Vergleich in die Riege fortschrittlicher Einwanderungsländer einreiht. Es hat politisch-konzeptionell in vielen Bereichen des Migrationsmanagements und der Integrationsförderung deutlich aufgeholt und kann sich im Vergleich mit klassischen Einwanderungsländern sehen lassen. Die Analysen zeigen zum anderen aber auch Defizite und Versäumnisse der deutschen und der europäischen Politik auf, etwa das Fehlen eines nach außen, aber auch nach innen getragenen migrationspolitischen Gesamtkonzepts und die Notwendigkeit einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).
Abgesehen von solchen konkreten Reformvorschlägen macht das Gutachten auch die ‚Grenzen des Lernens von anderen‘ deutlich. Deutschland kann daher aus drei Gründen nicht einfach ‚Blaupausen‘ nutzen, die in anderen Ländern entwickelt wurden: Erstens stellen länderspezifisch unterschiedliche politische, ökonomische, kulturelle oder soziale Rahmenbedingungen die im politischen und medialen Diskurs beliebte Empfehlung eines einfachen Imports einer – anderswo (anscheinend) bewährten – politischen Maßnahme infrage. Zweitens ist Deutschland mittlerweile in Bereichen wie der Arbeitsmigrationspolitik selbst zu einem Vorreiter einer modernen Migrationspolitik geworden. Drittens gibt es eine Tendenz zur Konvergenz – mit der Folge, dass sich die Politik zahlreicher Einwanderungsländer einander annähert und immer mehr ähnelt.
Deutschland müsse daher seinen eigenen Weg finden, der eingebettet ist in die Rahmen-bedingungen hierzulande und der davon geleitet ist, die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu sichern. Hierzu macht das Gutachten einige Vorschläge. Zum Beispiel müsse die Politik in diesem stark von Emotionen geprägten Politikfeld Entscheidungen und Hintergründe besser erklären und deutlich machen, dass Zuwanderung nicht zuletzt aufgrund des demografisch bedingten Fachkräftemangels Chance und Notwendigkeit für Deutschland sei. Politiker müssten stärker als bisher hinausgehen, die Bürgernähe und das Gespräch suchen. Ein modernes Einwanderungsland brauche ein klares Selbstverständnis und eindeutige Regeln für das Kommen und das Zusammenleben. Ein vom SVR bereits mehrmals angemahntes migrationspolitisches Gesamtkonzept wäre auch für den Dialog mit den Bürgern hilfreich.
Mit Blick auf die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems entwickelt der SVR in seinem Gutachten beispielsweise einen Vorschlag zur Versöhnung zweier scheinbar unversöhnlich gegenüberstehender Positionen: Im Zentrum der aktuellen Debatten steht das Dublin-Prinzip, nach dem prinzipiell der Staat der Ersteinreise für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Kritiker des Dublin-Systems diskutieren als grundlegende Alternative ein unter dem Schlagwort des free choice bekannt gewordenes System, in dem die grundsätzliche Zuständigkeit des Ersteinreisestaats aufgehoben und Flüchtlingen freigestellt wird, in welchem Land sie ihren Asylantrag stellen. Der SVR zeigt hier einen dritten Weg auf, der Elemente des Dublin-Systems mit der Idee des free choice verbindet. Der SVR plädieret dabei für den Erhalt des umstrittenen Dublin-Systems. Die betroffenen EU-Grenzstaaten sollen aber finanzielle und logistische Hilfe dafür erhalten, dass sie einen großen Teil dieser gesamteuropäischen Aufgabe übernehmen, fordert der Rat. Kombiniert werden soll das Dublin-System durch das Prinzip freier Wohnortwahl nach erfolgreichem Abschluss eines Asylverfahrens. Die Staaten in Südeuropa bekämen Gewissheit, dass anerkannte Flüchtlinge in den Westen und Norden Europas weiterwandern, argumentieren die Wissenschaftler. Die Länder im Norden bekämen im Gegenzug mehr Flüchtlinge, aber weniger Asylbewerber.
Vorrangig sei jedoch ein EU -Soforthilfeprogramm, das Flüchtlingen zumindest vorüberge-hend Schutz biete. Dazu sei eine Lastenteilung nötig, etwa auf der Basis fairer Aufnah-mequoten, die für alle EU-Länder verbindlich werden müssten. Solche Quoten müssten neben dem Bevölkerungsanteil auch das jeweilige Arbeitskräfteangebot in den einzelnen Ländern sowie deren Wirtschaftskraft berücksichtigen. Europa müsse auch Armutsflücht-lingen in begrenztem Maße legale Zugangswege eröffnen, etwa durch Mobilitätspartnerschaften und Verträge mit einzelnen Ländern über eine „zirkuläre Migration“, also über die zeitlich befristete Aufnahme von Flüchtlingen als Arbeitskräfte oder zur Ausbildung.
Nun mit einem Gesamtpaket von Maßnahmen auf europäischer Ebene sei die zurzeit stark eingeschränkte Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wieder herzustellen. Bislang scheitere ein solches Paket aber stets an der mangelnden Solidarität im EU-Ministerrat. Für die ganz überwiegende Mehrzahl der EU-Mitgliedsstaaten würde dies eine erstmalige Beteiligung an der gesamteuropäischen Auf-gabe des Umgangs mit den (Bürger-)Kriegsflüchtlingen und damit eine vermehrte Lasten-tragung bedeuten.
Das SVR-Jahresgutachten steht unter www.svr-migration.de zum Download zur Verfügung.