Die vorliegende Rechtssache (EuGH C-299/14) gehört zu einer Reihe von Rechtsstreitigkeiten aus Deutschland, in denen der EuGH zu entscheiden hat, ob es mit dem Unionsrecht, speziell mit dem Gleichheitsgrundsatz, vereinbar ist, dass bestimmte Unionsbürger vom Bezug von Sozialleistungen, die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen sind, ausgeschlossen werden. In diesen Rechtssachen geht es um die deutschen Leistungen der Grundsicherung, von denen ausgeschlossen sind: 1) Ausländer (und ihre Familienangehörigen), wenn sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und 2) Ausländer (und ihre Familienangehörigen) für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, wenn sie keine Arbeitnehmer oder Selbständige sind und ihnen die Erwerbstätigeneigenschaft auch nicht erhalten geblieben ist. Im Urteil Dano (EuGH, Urt. v. 11.11.2014 - C-333/13 "Dano") hat der EuGH bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten Unionsbürger, die sich in ihr Hoheitsgebiet begeben, ohne dort Arbeit finden zu wollen, von Sozialhilfeleistungen ausschließen dürfen. In der noch anhängigen Rechtssache Alimanovic (C-67/14) wiederum geht es um Unionsbürger, die die gleichen Leistungen beantragt haben, nachdem sie sich mehr als drei Monate in Deutschland aufgehalten und dort weniger als ein Jahr gearbeitet hatten. In seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache hat der Generalanwalt unlängst vorgeschlagen, zu entscheiden, dass in einem solchen Fall Sozialhilfeleistungen nicht automatisch ohne individuelle Prüfung verweigert werden dürfen.
In der vorliegenden Rechtssache geht es um einen Unionsbürger, der während der ersten drei Monate seines Aufenthalts in Deutschland kein Arbeitnehmer oder Selbständiger ist (und dem die Erwerbstätigeneigenschaft auch nicht erhalten geblieben ist) und der daher für diesen Zeitraum von den deutschen Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen ist. Herr P. und sein Sohn besitzen die spanische Staatsangehörigkeit; sie sind Ende Juni 2012 nach Deutschland eingereist, wohin sie Frau G. und ihrer Tochter nachgezogen sind. Frau G. und ihre Tochter, die spanische Staatsangehörige sind, sind im April 2012 nach Deutschland eingereist. In den ersten Monaten wohnte die Familie bei der Mutter von Frau G. und bestritt ihren Lebensunterhalt aus dem Einkommen von Frau G., die ab Juni 2012 eine Arbeit hatte. Die Kinder besuchten ab Ende August 2012 die Schule in Deutschland. Später übte Herr P. ebenfalls zeitweise Beschäftigungen aus oder bezog Arbeitslosengeld, teilweise auf der Grundlage von in Spanien zurückgelegten Versicherungszeiten. Herrn P. und seinem Sohn wurden die deutschen Grundsicherungsleistungen für die Monate August und September 2012 mit der Begründung verweigert, dass sie sich weniger als drei Monate in Deutschland aufgehalten hätten. Das LSG Essen fragte an, ob dieser Ausschluss mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
In seinen Schlussanträgen vom 04.06.2015 geht Generalanwalt Wathelet davon aus, dass die in Rede stehenden Leistungen – ebenso wie in den Rechtssachen Dano und Alimanovic – (zumindest in erster Linie) die Existenzmittel gewährleisten sollen, die erforderlich sind, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht, und nicht (oder erst in zweiter Linie) den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen. Folglich seien diese Leistungen im Sinne der Unionsbürgerrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten) als Leistungen der Sozialhilfe einzustufen. Generalanwalt Wathelet geht außerdem davon aus, dass es sich auch um besondere beitragsunabhängige Geldleistungen im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1244/2010 der Kommission vom 09.12.2010 (ABl. L 338, S. 35) geänderten Fassung handelt. Nach Ansicht des Generalanwalts ist der Ausschluss solcher Sozialhilfeleistungen in den ersten drei Monaten des Aufenthalts mit dem Unionsrecht vereinbar.
Er weist darauf hin, dass der EuGH im Urteil Dano bereits bestätigt hat, dass der Aufnahmemitgliedstaat nach der Unionsbürgerrichtlinie nicht verpflichtet ist, einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats oder seinen Familienangehörigen für Aufenthalte bis zu drei Monaten einen Anspruch auf eine Sozialleistung einzuräumen. Nach seiner Ansicht steht diese Auslegung im Einklang mit dem Ziel der Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten, das mit der Richtlinie verfolgt wird. Da die Mitgliedstaaten von Unionsbürgern nicht verlangen dürften, dass sie für einen Aufenthalt von drei Monaten über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts und eine persönliche Absicherung für den Fall der Krankheit verfügen, sei es legitim, dass den Mitgliedstaaten nicht auferlegt wird, während dieses Zeitraums die Kosten für sie zu übernehmen. Nähme man nämlich das Gegenteil an und räumte Unionsbürgern, die nicht verpflichtet sind, über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zu verfügen, das Recht auf Sozialhilfeleistungen ein, bestünde die Gefahr, dass dadurch eine Massenzuwanderung ausgelöst wird, die eine unangemessene Inanspruchnahme der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit nach sich ziehen könnte. Außerdem hätten diejenigen, die sich in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats begeben würden, zwar möglicherweise persönliche Bindungen zu anderen Unionsbürgern, die bereits in diesem Mitgliedstaat wohnen; unbeschadet dessen sei aber die Verbindung mit dem Aufnahmemitgliedstaat selbst während dieses ersten Zeitraums aller Wahrscheinlichkeit nach eingeschränkt. Für den Fall, dass der EuGH dem LSG Essen die Aufgabe überlasse, die deutschen Grundsicherungsleistungen unionsrechtlich einzustufen, und dieses zu der Auffassung gelange, dass diese Leistungen im Wesentlichen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, kommt der Generalanwalt allerdings zu einem anderen Ergebnis. In diesem Fall verbieten es seiner Ansicht nach das Unionsrecht und speziell die Arbeitnehmerfreizügigkeit, Angehörige anderer Mitgliedstaaten während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats von solchen Leistungen auszuschließen, ohne dass den Betreffenden ermöglicht wird, das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung mit dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats nachzuweisen.
In dieser Hinsicht seien Umstände, die sich aus dem familiären Kontext ergeben (wie die Schulausbildung der Kinder oder enge Bindungen, insbesondere persönlicher Natur, die der Antragsteller zu dem Aufnahmemitgliedstaat aufgebaut hat), ebenso wie die effektive und tatsächliche Beschäftigungssuche während eines angemessenen Zeitraums Umstände, die das Bestehen einer solchen Verbindung mit dem Aufnahmemitgliedstaat belegen könnten. Eine frühere Erwerbstätigkeit oder auch die Tatsache, dass der Betreffende nach Stellung des Antrags auf Sozialleistungen eine neue Arbeit gefunden hat, wäre zu diesem Zweck ebenfalls zu berücksichtigen.
Quelle: Pressemitteilung des EuGH Nr. 60/2015 v. 04.06.2015