Das SVR-Jahresgutachten 2021 kommt zu folgenden wesentlichen Erkenntnissen und Empfehlungen:
Deutschland ist vielfältiger geworden
Ein Faktor, der dazu beigetragen hat, ist Zuwanderung. Jeder vierte in Deutschland lebende Mensch hat 2019 eine eigene oder familiäre Einwanderungsgeschichte – das sind insgesamt 21,2 Mio. Einwohner*innen. Etwas mehr als die Hälfte der Menschen mit Migrationshintergrund hat einen deutschen Pass – das sind rund 11,1 Mio. Etwa ein Drittel stammt aus einem Mitgliedstaat der EU, ein weiteres knappes Drittel aus einem europäischen Staat außerhalb der EU. Das übrige Drittel verteilt sich auf alle anderen Länder der Welt. Über ein Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund ist in Deutschland geboren.
Aus Herkunftsunterschieden dürfen keine Teilhabeungleichheiten entstehen
Angesichts dieser Entwicklungen besteht die zentrale Zukunftsaufgabe für die Migrations- und Integrationspolitik aus Sicht des SVR vor allem darin, zu vermeiden, dass aus (Herkunfts-)Unterschieden (Teilhabe-)Ungleichheiten werden. Wenn die Eingliederung der zugewanderten Bevölkerung in zentrale Bereiche der Gesellschaft gelingen soll, müssen sich vor allem die Migrantinnen und Migranten selbst bemühen. Das betrifft etwa das Erlernen der deutschen Sprache. Aber auch der nicht zugewanderte Teil der Bevölkerung muss dazu beitragen, damit die Anstrengungen der Zugewanderten nicht ins Leere laufen.
Dieses Verständnis wird aus Sicht des DStGB geteilt.
Wahlbeteiligung und Anteil von Abgeordneten mit Migrationshintergrund ausbaufähig
Deutsche mit Migrationshintergrund stellten 2019 rund 12,5 Prozent aller Wahlberechtigten. Dieser Anteil wird weiter steigen, wenn Angehörige der zweiten und dritten Zuwanderungsgeneration volljährig werden. Im Vergleich zu Deutschen ohne Zuwanderungsgeschichte geben Deutsche mit Migrationshintergrund in Befragungen seltener an, dass sie gewählt haben. Beim Blick in die Länderparlamente sowie den Bundestag fällt auf, dass sich der Anteil von Abgeordneten mit Migrationshintergrund im Verlauf der vergangenen Jahre erhöht hat; er liegt jedoch weiterhin unter dem Anteil an den Wahlberechtigten. In den Parlamenten der Bundesländer hatten 2015 insgesamt 4,5 Prozent der Landtagsabgeordneten einen Migrationshintergrund. Dabei bestehen Unterschiede zwischen den Ländern. Im 19. Deutschen Bundestag (seit 2017) haben 8,2 Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund, das sind 58 von insgesamt 709 Abgeordneten.
Politische Partizipation durch Einbürgerungen und mehr Wahlrechte stärken
Der SVR spricht sich dafür aus, dass Länder und Kommunen gezielt für Einbürgerung werben und Einbürgerungsberechtigte über ihre Möglichkeiten und die Vorteile der Einbürgerung informieren. Zudem sollten die Einbürgerungsverfahren bürgernäher gestaltet werden, z.B. durch festliche Einbürgerungszeremonien, Kampagnen und Feiern. Solche Initiativen würden die Einbürgerungsraten steigern. Sie wären zugleich ein wichtiges Signal an jene, die schon immer die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. So könnten sie das Miteinander in der kommunalen Bürgergesellschaft befördern. Darüber hinaus sollte die Wahlbeteiligung gefördert und ein kommunales Ausländerwahlrecht für Drittstaatsangehörige erwogen werden.
Anmerkung des DStGB: Aus kommunaler Sicht sind Einbürgerungen ein wichtiger Baustein für die Integration. Integrationspolitisch ist umstritten, ob eine Einbürgerung das Ergebnis einer erfolgreichen Integration oder ein Mittel auf dem Weg zum Integrationserfolg ist. Einerseits ist eine bereits sehr weit fortgeschrittene Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt unverzichtbare Voraussetzung jeder Einbürgerung, andererseits kann sie positive Auswirkungen auf den weiteren Integrationsprozess der Eingebürgerten haben. Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit kann demnach beides bedeuten: Ergebnis erfolgreicher Integration und Mittel auf dem Wege zum Integrationserfolg. Die Kommunen werden daher ihre bisher unternommenen Anstrengungen zur Förderung der Einbürgerungen verstetigen und ausbauen. Bund und Länder sollten die Kommunen dabei aktiv unterstützen.
Die Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechts für Drittstaatsangehörige wird aus kommunaler Sicht dagegen kritisch gesehen. Angesichts der verfassungsrechtlichen Grenzen ist ein solches Instrument derzeit nicht umsetzbar. Zudem besteht die Gefahr, in die kommunale Selbstverwaltung einzugreifen. In den Kommunen sollte aber nach geeigneten Wegen gesucht werden, um politische Beteiligung, Repräsentation und Interessenvertretung für Menschen mit Migrationshintergrund zu ermöglichen. Dabei können beispielweise Integrationsbeiräte und Migrantenorganisationen – ebenso wie betriebliche Partizipation – eine ergänzende Funktion übernehmen. Sie können konventionelle Formen der Partizipation und besonders die Ausübung des Wahlrechts nicht ersetzen, aber sinnvoll ergänzen.
Integration von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in den Arbeitsmarkt
Auf dem Arbeitsmarkt ist der Anteil von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in den vergangenen Jahren gestiegen. Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass in bestimmten Schlüsselbereichen – zum Beispiel dem Gesundheitssystem – auf die Mitarbeit von Beschäftigten mit Migrationshintergrund nicht mehr verzichtet werden kann. Mittlerweile haben ein Viertel aller Beschäftigten eine eigene oder familiäre Zuwanderungsgeschichte. Trotzdem sind viele von ihnen nach wie vor benachteiligt, arbeiten in atypischen Beschäftigungsverhältnissen und erzielen im Durchschnitt ein geringeres Einkommen. Aufgrund ihrer Ausbildung oder komplizierten Anerkennungsverfahren können sie oft keine höheren formalen Qualifikationen nachweisen. Hinzu kommen Diskriminierung, fehlende berufliche und soziale Netzwerke oder unzureichende Sprachkenntnisse.
Im öffentlichen Dienst, der ein besonderes Segment des Arbeitsmarktes darstellt, sind Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung im erwerbsfähigen Alter weiterhin deutlich unterrepräsentiert: Nach Auswertungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung hatten im Jahr 2018 11,9 Prozent der Erwerbstätigen im öffentlichen Dienst einen Migrationshintergrund, in der Privatwirtschaft waren es 26,6 Prozent. Allerdings ist der Anteil in den letzten Jahren leicht angestiegen: 2005 waren es noch 8,9 Prozent.
Der SVR empfiehlt öffentlichen und privaten Arbeitgebern, Maßnahmen zu ergreifen oder zu stärken, die einen entsprechenden Zugang eröffnen. Dazu gehören etwa Hospitationsangebote, Praktika oder entsprechende Kampagnen, die gezielt Personen mit Migrationshintergrund ansprechen. Darüber hinaus könnten öffentliche Stellen Menschen mit Migrationshintergrund z. B. im Rahmen von Jobbörsen oder Career-Services noch stärker ansprechen. Die allgemeine Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wie auch die ‚klassische‘ Integrationspolitik müssen Diskriminierungen im Arbeitsmarkt entgegenwirken.
Anmerkung des DStGB: Auf kommunaler Ebene wird bereits viel getan, um den Zugang von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in den Arbeitsmarkt und in öffentlichen Dienst in den Kommunen zu fördern. Dabei wird das gesellschaftliche und politische Engagement gestärkt, interkulturelle Öffnung und Antidiskriminierung gefördert, Extremismus-Prävention und Deradikalisierung als Herausforderung angenommen und aktiv Vertrauensbildung und Stärkung in die Politik, politische Institutionen und Prozesse betrieben. Kommunale Arbeitgeber müssen diese Ansätze selbstverständlich weiter fördern, ausbauen und zum Teil auch besser werden. Die kommunalen Arbeitgeber sind hier ebenso angesprochen, wie der öffentliche Dienst beim Bund und Ländern. Gerade auch die Privatwirtschaft ist hier gefordert, sich noch klarer zu positionieren und Zugänge zu erleichtern.
Stärkung der kulturellen Zugänge und Bildung in Kommunen
Unverzichtbarer Bestandteil des kulturellen Lebens ist zudem in vielen Gemeinden und Quartieren eine interkulturelle Praxis. Gerade solche niedrigschwelligen Formate kultureller Interaktion sollten stärker wertgeschätzt und gefördert werden. Doch auch im Kulturbereich zeigt sich, dass Personen mit Migrationshintergrund gerade die klassischen Einrichtungen (z. B. Theater, Opernhäuser) seltener nutzen als Personen ohne Migrationshintergrund. Wie die (wenigen) verfügbaren Daten dazu zeigen, lassen sich diese Unterschiede vor allem über die sozioökonomische Lage und den Bildungsstand erklären.
Der SVR rät dazu, gerade für junge Menschen den Besuch bestimmter staatlicher Kultureinrichtungen kostenlos anzubieten. Darüber hinaus empfiehlt er gezielte weitere Maßnahmen, um die staatlichen Kulturinstitutionen zu öffnen, zivilgesellschaftliche, künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen zu stärken und in staatlichen Bildungseinrichtungen die kulturelle Bildung zu verstärken. Das soll einen herkunftsunabhängigen Zugang ermöglichen.
Anmerkung des DStGB: Der DStGB unterstreicht die Bedeutung von Kultur und gesellschaftlicher Teilhabe gerade junger Menschen vor Ort. Kommunen, gerade auch in ländlichen Regionen, müssen noch viel stärker in diesem Bereich von Ländern und dem Bund unterstützt werden, um die vorhandenen – überwiegend freiwilligen - Angebote ausbauen zu können. Nur dann können auch kostenlose Angebote eine Option sein. Entscheidend kommt es darauf an, dass für alle Menschen unabhängig von der Herkunft vor Ort niedrigschwellige Angebote gemacht werden.
Anstieg der Akzeptanz der Bevölkerung von Diversität
In der deutschen Bevölkerung ist die Akzeptanz gestiegen; das zeigen entsprechende Langzeitdaten. Zuwanderung wird danach zunehmend als Bereicherung empfunden, und Zugewanderten wird grundsätzlich das Recht auf Teilhabe zugesprochen. In der Bevölkerung hat sich ein Selbstverständnis durchgesetzt, nach dem Zugewanderte Teil der deutschen Gesellschaft sind. Zudem wird bezogen auf den Umgang mit Diversität immer stärker der Grundsatz der Gleichheit vertreten. Dennoch gibt es nach wie vor Diskriminierung bspw. auf dem Wohnungs- und Ausbildungsmarkt. Und auch wenn klassisch rassistische Einstellungen – also die Vorstellung, dass bestimmte Menschen von Natur aus minderwertig seien – kaum mehr auf Zustimmung stoßen, finden subtilere rassistische Aussagen, die auf kulturelle Merkmale zurückgeführt werden, noch Akzeptanz.
Hier stellt der SVR einen klaren Forschungs- und Handlungsbedarf fest. Der Staat solle zudem als Vorbild agieren und etwa durch Fortbildungen innerhalb seiner Institutionen stärker für Rassismus und Diskriminierung sensibilisieren. Der SVR fordert, die in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe zu klären und die verschiedenen Ausdrucksformen von Rassismus eingehender zu erforschen. Um der Vorbildrolle des Staates gerecht zu werden, empfiehlt er darüber hinaus, innerhalb staatlicher Institutionen stärker für Rassismus und Diskriminierung zu sensibilisieren, beispielsweise durch Trainings auf dem Gebiet der Antidiskriminierungsarbeit.
Anmerkung des DStGB: Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass sich eine große Mehrheit der Bevölkerung positiv im Umgang mit Diversität äußert und Zuwanderung als Bereicherung empfindet. Dies ist auch in zahlreichen Städten und Gemeinden deutlich sichtbar. Dennoch ist auf der anderen Seite ein enormer Anstieg von Hass, Diskriminierungen, Rassismus, Antisemitismus und Anfeindungen zu beobachten, die auch Kommunalpolitiker*innen sowie die kommunalen Beschäftigten deutlich zu spüren bekommen. Die gemeinsame Positionierung und das Aufstehen gegen Hass und Hetze gegen Menschen aufgrund der ihnen zugeschriebenen oder tatsächlichen Herkunft, ethnischen Zugehörigkeit oder Religion, ist gerade in Zeiten der sozialen Distanz und der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in der Corona- Pandemie wichtiger denn je. Viele Städte und Gemeinden setzen sich u.a. in Sportvereinen, Jugend- und Kultureinrichtungen, Schulen, Volkshochschulen, Betrieben, Verwaltungen, mit Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften, Bürgerinitiativen, Migrantenselbstorganisationen, für eine offene und vielfältige Gesellschaft ein.
Der DStGB sitzt für die Bundesvereinigung der Kommunalen Spitzenverbände im Kuratorium des SVR und wird sich dort zu diesen und weiteren Themen der Integration von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte einbringen.