Konkret ging es um Verträge über Dienstleistungen der betrieblichen Altersversorgung im Jahr 2004 durch kommunalen Behörden oder Betriebe, die damals mehr als 4 505 Beschäftigte hatten, im Jahr 2005 durch kommunale Behörden oder Betriebe, die damals mehr als 3 133 Beschäftigte hatten, und in den Jahren 2006 und 2007 durch kommunale Behörden oder Betriebe, die damals mehr als 2 402 Beschäftigte hatten.
Hintergrund:
Nach § 6 des Tarifvertrages zur Entgeltumwandlung vom 18.02.2003 (TV-EUmw/VKA) ist die Entgeltumwandlung grundsätzlich bei öffentlichen Zusatzversorgungseinrichtungen, Unternehmen der Sparkassen-Finanzgruppe oder Kommunalversicherern durchzuführen. Nach Ansicht der Europäischen Kommission liegt mit dieser tariflichen Regelung ein Verstoß gegen die Richtlinie 92/50/EWG beziehungsweise die (Vergabe-)Richtlinie 2004/18/EG vor, weil kommunale Behörden und Betriebe Dienstleistungsverträge über die betriebliche Altersvorsorge ohne europaweite Ausschreibungen direkt an die in § 6 des Tarifvertrages genannten Einrichtungen und Unternehmen vergeben haben. Im Juni 2008 hat die EU-Kommission die Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Sie wollte den Verstoß gegen die genannte Richtlinie festgestellt wissen.
Der EuGH ist mit seinem Urteil vom 15.07.2010 im Wesentlichen der Rechtsauffassung der Kommission gefolgt. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die in Rede stehenden Entgeltumwandlungsverträge als öffentliche Dienstleistungsaufträge im Sinne der Richtlinie 92/50/EWG und 2004/18/EG anzusehen sind. Wegen der weiteren Einzelheiten des EuGH-Urteils wird auf die Entscheidungsgründe verwiesen. Das Urteil kann bei Interesse unter www.dstgb-vis.de abgerufen werden.
Anmerkung:
Die Entscheidung des EuGH wird in der kommunalen Praxis zu einer großen Verunsicherung führen. Der DStGB hat in der Vergangenheit – gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft kommunale und kirchliche Altersversorgung (AKA) e. V. – darauf hingewiesen, dass Tarifvertragsparteien regelmäßig arbeitsvertragliche Beziehungen regeln. Sozialpartner, die Tarifverhandlungen führen und tarifvertraglich Entgeltumwandlung regeln, regeln mithin arbeitsvertragliche Beziehungen und sind keine öffentlichen Auftraggeber. Leider hat die Argumentation, wie auch der Hinweis, dass der treuhänderisch beauftragte Arbeitgeber, der für einen einzelnen Arbeitnehmer individuell sein Arbeitsentgelt umwandelt, nicht als vergabepflichtiger Vorgang gewertet werden darf, nicht getragen. Der EuGH hat die Anwendbarkeit der EU-Vergaberichtlinien im vorliegenden Fall bejaht.
Mit Blick auf die weitere Vorgehensweise in der kommunalen Praxis möchten wir zunächst auf ein aktuelles Schreiben der AKA e. V. verweisen. Die AKA hat mitgeteilt, dass derzeit noch unklar ist, wie weiter zu verfahren ist. Weder im europäischen noch im deutschen Vergaberecht sei ausdrücklich angeordnet, was mit Aufträgen zu geschehen habe, die ohne Ausschreibung vergeben wurden. Auch die Rechtsprechung habe dies noch nicht höchstrichterlich geklärt. Aus Sicht der AKA gibt es jedoch einige Punkte, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Betracht gezogen werden sollten:
1. Von den kommunalen Arbeitgebern sind laut Feststellungen des EuGH nur die „größeren Arbeitgeber“ mit mehr als 2.402 Beschäftigten in den Jahren 2006 und 2007 betroffen. Für die Jahre 2004 (4.505 Beschäftigte) und 2005 (3.133 Beschäftigte) lag der Schwellenwert sogar noch höher (siehe Tenor, Rn. 108). Infolgedessen entfaltet dieses Urteil für eine große Anzahl der kommunalen Arbeitgeber keine Wirkung. Dies belegen die Zahlen der AKA, wonach sich im kommunalen Bereich etwa 2.248.000 Pflichtversicherte auf rund 21.500 Arbeitgeber verteilen, was einem statistischen Mittelwert von ca. 105 Beschäftigten je Arbeitgeber entspricht.
2. Auch für die verbleibenden „größeren“ kommunalen Arbeitgeber erwachsen aus dem Urteil derzeit noch keine unmittelbaren Folgen. Denn Verfahrensgegnerin war die Bundesrepublik Deutschland (siehe Tenor, Rn. 108). Streitgegenständliche Norm war aber vor allem § 6 TV-EUmw/VKA; eine Norm, die nur von den Tarifvertragsparteien geändert werden kann, auf welche die Bundesrepublik Deutschland wegen der in Art. 9 Abs. 3 GG verankerten Tarifhoheit keinen direkten Zugriff hat. Infolgedessen bedarf es zunächst einer Änderung durch die Tarifvertragsparteien.
3. Ferner ist von dem Verfahren nur die (kommunale) Entgeltumwandlung im Rahmen der freiwilligen Versicherung betroffen. Dies ergibt sich aus der Aufstellung der streitgegenständlichen nationalen Normen unter Rn. 23 ff.
4. Völlig offen ist derzeit die Frage, wie mit den bestehenden Vereinbarungen zu verfahren sind, die laut Feststellungen des EuGH gegen das gemeinschaftsrechtliche Vergaberecht verstoßen. „Vereinbarungen“ im Sinne dieses Verfahrens sind dabei die zwischen den einzelnen Arbeitgebern und der Kasse abgeschlossenen Rahmenvereinbarungen, nicht aber die einzelnen Entgeltumwandlungsverträge (siehe Rn. 30). Laut den Ausführungen in einem Beitrag der Financial Times Deutschland vom 19.7.2010 besteht nach Aussage eines in diesem Artikel genannten Vergaberechtsexperten die Möglichkeit einer Kündigung, unter Umständen sogar eine Kündigungspflicht. Auch nach den uns vorliegenden Informationen gibt es zu dieser Frage noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung, sondern nur eine Entscheidung des LG München vom 20.12.2005 (Az. 33 O 16465/05; abrufbar unter juris). Auslöser dieses Verfahrens war ebenfalls eine Entscheidung des EuGH, der einen Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Vergaberecht (im Bereich des Transportwesens) festgestellt hatte. Das LG München räumte in diesem Fall ein außerordentliches Kündigungsrecht ein, nicht aber ein Anfechtungsrecht wegen Nichtigkeit, das zur Rückabwicklung der Leistungen geführt hätte (siehe Rn. 78 ff. des Urteils des LG München). Eine Kündigung wirkt nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen aber nur für die Zukunft und muss außerdem vom Kündigenden – hier: dem kommunalen Arbeitgeber – ausgesprochen werden. Sollte die Kündigung unterbleiben, würden die bestehenden Rahmenvereinbarungen fortgeführt werden können. Erst im Fall einer ausgesprochenen Kündigung müsste der Arbeitgeber dann den neuen Anbieter für die Entgeltumwandlungsverträge im Wege eines europaweiten Ausschreibungsverfahrens aussuchen, ohne dabei aber zum derzeitigen Zeitpunkt zu wissen, wie sich die Bundesrepublik Deutschland und die Tarifvertragsparteien letztendlich positionieren werden.