Hintergrund von Gebiets- und Funktionalreformen
In den 1960er und 1970er Jahren war die Politik der Meinung, dass die historisch gewachsenen Strukturen und Grenzen der Gemeinden neu überdacht und an Vorstellungen der Raumplanung angepasst werden müssten. Die Folge war eine drastische Reduzierung der Zahl der Gemeinden, Städte und Landkreise. Den Bürgern wurden Gebietsreformen durch verschiedene Verheißungen schmackhaft gemacht: So sollten die durch Gebietsreformen geschaffenen größeren Verwaltungseinheiten im Vergleich zu den alten, kleinen Gemeinden weniger kosten, leistungsfähiger sein und vor allem mehr Bürgernähe bringen. Die größere Nähe zu den Bürgern sollte durch eine sogenannte „Funktionalreform“ erreicht werden, durch die bisher vom Bund bzw. den Ländern wahrgenommene Aufgaben auf die lokale Verwaltung übertragen werden sollten.
Gebietsreformen in Hessen und Nordrhein-Westfalen
In Hessen wurde die Zahl der Gemeinden von 2.642 im Jahr 1969 bis 1977 auf 426 reduziert. Im Durchschnitt hat heute eine Gemeinde in Hessen 14.500 Einwohner. Die radikalste Gebietsreform wurde jedoch in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Hier wurde die Zahl der Gemeinden von 2.365 in mehreren Etappen bis 1975 auf 396 reduziert. An Rhein und Ruhr hat heute eine Gemeinde im Durchschnitt fast 45.000 Einwohner – sehr viel mehr als in allen anderen Flächenstaaten der Republik. Zum Vergleich: Im zweitgrößten Flächenstaat der Republik, im Freistaat Bayern, hat eine Gemeinde im Durchschnitt nur 6.200 Einwohner, obwohl auch hier die Zahl der Gemeinden von ursprünglich 7.000 auf 2.056 reduziert wurde. Doch im Vergleich zu Hessen und vor allem Nordrhein-Westfalen erfolgte die Gebietsreform in Bayern äußerst behutsam.
In Nordrhein-Westfalen und auch in Hessen haben die im Vergleich zu anderen Ländern radikalen gebietlichen Neuordnungen alles in allem eher negative als positive Auswirkungen gehabt. Vor allem sind die lokale Identität und somit auch die frühere starke Identifikation mit dem Wohnort verloren gegangen. In Bayern leben auch heute noch 90 Prozent der Bewohner der kreisangehörigen Gemeinden gerne in ihrer Gemeinde – bundesweit ein Spitzenwert. Die hohe Identifikation mit dem Wohnort führt im Übrigen auch zu einer hohen Wahlbeteiligung bei lokalen Wahlen. So haben von dem Viertel aller bayerischen Wahlberechtigten, die in Gemeinden mit weniger als 3.500 Wahlberechtigten wohnen, 67 Prozent an der letzten Kommunalwahl in Bayern im März 2014 teilgenommen. In den größeren Gemeinden Bayerns war die Wahlbeteiligung – wie auch in anderen Ländern –deutlich geringer.
Enttäuscht sind die Bürger in Hessen und in Nordrhein-Westfalen aber vor allem darüber, dass die durch die Gebietsreform geschaffenen größeren Verwaltungseinheiten weder sparsamer noch leistungsstärker und schon gar nicht bürgernäher geworden sind als die früheren Gemeinde- und Stadtverwaltungen. Und die in den 1960er und 1970er Jahren versprochene „Funktionalreform“ ist bis heute nicht begonnen geschweige denn durchgeführt wurde.
Die negativen Erfahrungen der Bürger in Hessen und Nordrhein-Westfalen mit der Gebietsreform dürften auch mit dazu beigetragen haben, dass heute geplante gebietliche Neuordnungen von den Bürgern eher skeptisch beurteilt werden. So hielt schon 2011 eine große Mehrheit der Mecklenburger die geplante Reduzierung der Landkreise von 12 auf 6 und die Reduzierung der Zahl der kreisfreien Städte von 6 auf 2 für falsch und wenig sinnvoll. Dass man durch die „Reform“ Kosten einsparen würde, glaubten sie ebenfalls nicht. Und dass die neuen Verwaltungseinheiten bürgernäher und bürgerfreundlicher werden würden, glaubt nur eine winzige Minderheit.
Gebietsreform in Brandenburg
Auch im Land Brandenburg lehnt eine klare Mehrheit von 67 Prozent aller Bürger die geplante Kreisgebietsreform ab. Die Ablehnung zeigte sich Ende 2015 in allen Bevölkerungs- und Wählergruppen. Nur die Anhänger der Grünen hielten häufiger als der Durchschnitt aller Brandenburger die geplante Reform für sinnvoll. Bei der geplanten Reform auf Gemeindeebene im Land Brandenburg ging die Gemeindeverwaltung der Gemeinde Glindow im Übrigen einen beispielhaften Weg. Sie ließ die Meinung ihrer Bürger darüber, ob Glindow in die Stadt Werder eingegliedert werden oder eine eigene Amtsverwaltung behalten sollte, per Umfrage ermitteln. Das Ergebnis: eine große Mehrheit sprach sich gegen die Eingliederung Glindows in die Stadt Werder aus.
Diese Art der Erkundung des Bürgerwillens wie in Glindow – die kostengünstiger als Bürgerentscheide und zudem weniger anfällig für verzerrende Einflüsse sich lautstark artikulierender Minderheitsgruppen ist – wurde im Übrigen von der großen Mehrheit der Glindower Bürger für gut befunden. Wo immer heute wieder gebietliche Neuordnungen geplant werden, sollte die Erfahrung mit bisherigen Neuordnungen bedacht werden, um den Unmut der Bürger über manche Politiker vor Ort nicht noch größer werden zu lassen.
Prof. Manfred Güllner hat für die Zeitschrift „KOMMUNAL“ einen Beitrag über die Auswirkungen von Gemeindegebietsreformen auf die Städte und Gemeinden verfasst. Dieser ist abrufbar unter https://kommunal.de/artikel/gebietsreformen-umfragen/.
Bewertung
Über die mit kommunalen Gebiets- und Verwaltungsstrukturreformen einhergehenden Effekten wird aktuell stark diskutiert. Der DStGB hat erst kürzlich über die Studie „Sparen Gebietsreformen Geld? – Ein Überblick über aktuelle Studien“ von Felix Rösel, Niederlassung Dresden des IFO-Instituts - Leibnitz Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München berichtet, die sich in eine Reihe kritischer Bewertungen solcher Reformen einfügt. Derartige Reformen werden oft mit Effizienzsteigerungen, der Professionalisierung der Verwaltung sowie Ausgabenreduzierungen begründet. Studien des Dresdener IFO-Institutes haben ergeben, dass frühere Gebietsreformen diese Ziele nicht erreicht haben. Es wurden keine Qualitätssteigerungen der Verwaltungen und Kostenreduzierungen festgestellt, statt dessen führten sie – wie auch Herr Prof. Güllner bestätigt - sogar zu einem Rückgang der Zufriedenheit mit der Gemeindeverwaltung sowie zu einem Rückgang der Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen. Auch eine Studie von Prof. Rosenfeld über „Gebiets- und Verwaltungsstrukturen im Umbruch“ zeigt: Effizienzsteigerungen sind danach weder von Gemeindevergrößerungen noch von der pauschalen Umwandlung von mehrstufigen kommunalen Organisationseinheiten in Einheitsgemeinden zu erwarten. Das richtig bemessene Gemeindegebiet findet danach seine Begrenzung in der Wahrung der örtlichen Verbundenheit der Einwohnerschaft mit der politischen Gemeinde.
Aus Sicht des DStGB müssen Gebietsreformen immer Rücksicht auf die Struktur in den jeweiligen Bundesländern nehmen sowie die Bürgerinnen und Bürger bei der Entscheidung einbezogen und bei dem Prozess mitgenommen werden. Die Zusammenlegung von Gemeinden oder Landkreisen hat gezeigt, dass diese spürbare politische Kosten nach sich ziehen und populistische Tendenzen verstärken kann. Große, anonyme Verwaltungseinheiten können einen Verlust von Identifikation und einen Rückgang des politischen Engagements bedeuten. Deswegen muss sorgfältig überlegt und abgewogen werden, bevor man Gebietsreformen durchführt und damit gewachsene Strukturen möglicherweise gefährdet.