„Es gibt keinen Königsweg und keine Blaupause, aber die Kommunen sind bereit zu investieren, wenn es um Strukturen beim bürgerschaftlichen Engagement geht“, sagt Andrea Hankeln. Die für Engagementförderung zuständige Referatsleiterin im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen weiß, wovon sie spricht. Dabei räumt sie ein, dass „ebenso wie die Landesregierung auch die Verantwortlichen in den Kommunen noch viel auf diesem Feld zu lernen haben“, wenn es um nachhaltige Finanzierungsstrategien, Qualifizierungsangebote, eine bedarfsgerechte Infrastruktur oder Formen der Anerkennung beim bürgerschaftlichen Engagement geht. Wie NRW seine Engagementförderung zum Beispiel mit dem zielgerichteten Ausbau eines kommunalen Netzwerkes vorantreibt, war eines der Projekte, die Andrea Hankeln auf der Fachkonferenz „Zivilgesellschaft und Kommunen – Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis“ in der Berliner Landesvertretung ihres Bundeslandes am 8. April 2014 vorstellte.
Ob Sportvereine, Freiwillige Feuerwehr, Stadtteilmütter oder Schulmentoren - seit Jahren können sich die Verantwortlichen in den Kommunen auf die aktive Zivilgesellschaft verlassen. Die über 600.000 Vereine, Stiftungen und gemeinnützigen Initiativen stärken den sozialen Zusammenhalt in Deutschland und fungieren als Plattformen für lokale Gemeinschaften. Aber funktioniert die Zusammenarbeit zwischen engagierten Bürgern und Kommunalpolitikern immer reibungslos? Können Berührungsängste und Vorbehalte zwischen den Engagierten auf der einen Seite und den politisch Verantwortlichen sowie den Verwaltungen auf der anderen abgebaut werden? Und wie sind bei einer alternden Gesellschaft junge Menschen für ein Ehrenamt zu gewinnen?
Vor dem Hintergrund einer ausgedünnten Infrastruktur auf dem Land, wachsender zeitlicher Belastungen der Menschen und fehlenden Geldern in den Kommunen suchten Wissenschaftler und Praktiker nach neuen Wegen, Freiräumen und Kooperationen beim bürgerschaftlichen Engagement. Eingeladen zu diesem ganztägigen Austausch hatten die Herbert Quandt-Stiftung, ZiviZ und das Familienministerium in NRW.
Zivilgesellschaft im Spiegel der Wissenschaft
„Wir wussten lange Zeit sehr wenig über die organisierte Zivilgesellschaft“, klärt Dr. Holger Krimmer, ZiviZ-Projektleiter sein Publikum auf. Er präsentiert den etwa 120 Gästen aus Kommunen, dem Dritten Sektor, Politik, Vereinen und Verbänden die Ergebnisse des „ZiviZ-Survey“. „ZiviZ“ steht für „Zivilgesellschaft in Zahlen“ und wird gefördert vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, von der Bertelsmann-Stiftung und der Fritz-Thyssen-Stiftung. ZiviZ erfasste 2013 erstmals statistisch die gesamte organisierte Zivilgesellschaft, legte den Akzent auf organisations-theoretische Aspekte und will mit den Studienergebnissen Orientierungen und Ansatzpunkte für eine zukunftsorientierte Zivilgesellschafts-Politik liefern.
„Auch die Definition, wer in Deutschland alles zur Zivilgesellschaft gehört, war über viele Jahre nicht eindeutig“, erklärt Holger Krimmer dem Publikum. Von den fast 618.000 zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Bundesrepublik sind über 80 Prozent klassische Vereine. „Heute gibt es sieben Mal mehr als vor 50 Jahren und die Mehrzahl - gut Dreiviertel von ihnen - arbeitet rein ehrenamtlich. Solche Strukturen sind die Regel und nicht die Ausnahme. Wir konnten bei unseren Untersuchungen keine Ehrenamtskrise oder gar ein Vereinssterben feststellen, über die immer wieder die Zeitungen schreiben“, sagt Krimmer. Sicher könne man beobachten, dass in traditionellen Vereinen, wie beim Sport oder Karneval, ein Mitgliederrückgang zu verzeichnen sei, der aber durch Steigerungen im Umwelt- und Naturschutz, im Bildungs- und Gesundheitswesen oder bei sozialen Diensten mehr als ausgeglichen werde. Das schließt er aus den über 4000 Antworten von Vereinen, die die Grundlage seiner Untersuchung bilden. Aber auch hier gelte es zu differenzieren, da die Statistik in kleineren Städten eher ein Rück- als ein Zugang beim Engagement der Bürger konstatieren müsse. In Großstädten mit ihren offenen Strukturen, mit abnehmender Bindungsbereitschaft und gestiegener sozialer Mobilität zeichnen sich Wachstumsmärkte für Engagement ab – allerdings auch in neuen, informellen Organisationsformen.
Obwohl Krimmer betont, dass seine Analyse keine spezielle Kommunalstudie darstelle, verweist er auf „die wichtige Rolle der Städte und Gemeinden bei der finanziellen und strukturellen Förderung von Engagement. Die Kommunen stellen das Gros der öffentlichen Mittel bereit und sind die tragende Säule der Engagementförderung.“
Ob seine Forschungsergebnisse zur Zivilgesellschaft bei den Verantwortlichen in den Kommunen überhaupt angekommen seien, weiß Krimmer nicht genau zu sagen: „Das ist schwer zu sagen“, gibt er ohne Zögern zu, „wir stellen die Daten zur Verfügung – immer in der Hoffnung, dass sie auch von den Verantwortlichen genutzt werden.“ Und abschließend ist es ihm wichtig zu betonen: „Für mich ist eine starke Zivilgesellschaft kein Ausdruck eines Staatsversagens.“
Bürgerschaftliches Engagement in Mecklenburg-Vorpommern
Wie sich bürgerschaftliches Engagement in einer strukturschwachen Region mit hoher Arbeitslosigkeit, der Abwanderung junger Menschen und dadurch bedingter beschleunigter Alterung entwickelt, präsentiert Uwe Meergans von infratest dimap. In Wismar, Greifswald, Anklam, Demmin und Lalendorf machte sich der Forscher auf die Suche nach hemmenden und fördernden Faktoren für bürgerschaftliches Engagement in Mecklenburg-Vorpommern. Seine qualitative Studie mit 81 Bürgerinnen und Bürgern sei „in gewisser Weise repräsentativ, weil sie ein detailreiches Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit liefert“, so Meergans. Die umfangreichen Ergebnisse seiner Untersuchungen liegen unter dem Titel „Auf der Suche nach dem WIR-Gefühl“ als Band 26 der Reihe „Gedanken zur Zukunft“ der Herbert Quandt-Stiftung vor.
Gut 420 000 freiwillig Engagierte gibt es in Mecklenburg-Vorpommern – viele im Sport, deutlich weniger bei Kirchen, in Parteien, Berufsverbänden oder im Umweltschutz. Meergans führt zudem aus, dass Parteien und Politiker in den untersuchten Gemeinden ein tendenziell schlechtes Image hätten. Eine förderliche Rolle für Engagement werde ihnen kaum zugeschrieben, vielmehr würden sie kritisiert, sich zu wenig um das Ehrenamt und die Vereinslandschaften vor Ort zu kümmern. Politikverdrossenheit und politisches Desinteresse seien häufig gebrauchte Schlagwörter. Die fehlende öffentliche Akzeptanz und Präsenz etablierter Parteien werde dabei von Rechtsradikalen ausgenutzt, mit dem Ergebnis, dass „in Anklam und Demmin rechtes Leben zur Normalität geworden ist.“
Um einen Wandel zu bewirken, sei eine verstärkte, öffentliche Anerkennung der Bürger durch die Kommunen sehr wichtig - zum Beispiel durch einen „Bürgermeisterempfang“ oder einen „Ball der Vereine“. Wenn sich jedoch Land und Kommunen aus der strukturellen oder finanziellen Unterstützung für Fahrt-, Miet- oder Materialkosten zurückziehen, sinke die Bereitschaft der Bürger sich zu engagieren. Auffallend sei in MV auch „die Rolle der Senioren als tragende Stütze des Ehrenamtes, wohingegen Jugendliche nur schwer zu gewinnen sind“, bemerkt Meergans. Auch fast ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall sei das nordöstlichste Bundesland beim Ehrenamt „immer noch im Umbruch und nicht zu vergleichen mit anderen strukturschwachen Regionen im Westen der Republik“, betont der Forscher. Das Land solle deshalb die Engagementpolitik aufwerten, das Ehrenamt finanziell und sachlich besser fördern, in Bildung, Fortbildung und Kommunikation investieren und eine Unterstützung durch alle gesellschaftlichen Kräfte von den Kirchen über die Parteien bis zu den kommunalen Verantwortlichen organisieren.
Kommunale Engagementförderung in NRW
In der Verankerung der Engagementpolitik als Querschnittsaufgabe scheint NRW erfolgreich sein. Neben der Einbeziehung von Unternehmen oder Stärkung der Anerkennungskultur gibt es im Flächenland zwischen Rhein und Ruhr Mentoren-projekte, Qualifizierungsangebote oder Netzwerke zur Förderung der Vereinsarbeit. In über der Hälfte aller NRW-Kommunen wurde eine „Ehrenamtskarte“ eingeführt, die ihren Besitzern einige handfeste Vorteile wie Ermäßigungen beim Eintritt in Schwimmbädern, Tierparks oder Museen ermöglichen. „Bürgerschaftliches Engage-ment findet vor Ort statt und sichert den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, stellt Andrea Hankeln fest. „Aber nicht nur Zuschüsse zählen, sondern auch die kostenfreien Räume im Rathaus oder andere geldwerte Unterstützungen.“
Andrea Hankeln betont, dass „Beratung und Begleitung bei der Entwicklung von Engagementstrategien und dem Kommunennetzwerk“ stark nachgefragt werden. Hier setzt in Nordrhein-Westfalen das neue Projekt der „Entwicklungswerkstatt für kommunale Engagementstrategien“ mit Methoden des selbstorganisierten Lernens an. Jutta de Jong aus Bochum ist eine der Projektleiterinnen der Entwicklungswerkstätten und betont: „Nur wenn die Bürger als Partner auf Augenhöhe von der Verwaltung akzeptiert werden, kann die langfristige Strategie für alle zum Erfolg werden. Auf die Bürger zugehen und zu fragen: Was wollt ihr? Das ist ein erster wichtiger Schritt der kommunalen Verantwortlichen.“ Für Frau de Jong ist klar, dass man der Politik und Verwaltung Zeit geben muss. „Wo die Verwaltungsspitze hinter den Ideen der Bürgerbeteiligung steht, beschleunigen sich die Prozesse“, weiß sie aus ihrer praktischen Erfahrung. Dies belegen die bisherigen Ergebnisse aus den Pilotstandorten in Kamp-Lintfort, Lemgo, Solingen oder Bonn. „Hier gibt es Bürgerbüros und Runde Tische, an denen über die drei A’s: Aufwachsen, Armut, Alter diskutiert wurde. Das Lösen von Problemen mit den Bürgern führt am Ende zu passgenauen Lösungen und einer neuen Verantwortungspartnerschaft. Die Verwaltung der Zukunft ist im besten Sinne ein Ermöglicher und eine Plattform, auf der moderiert und integriert wird“, ist sich Jutta de Jong sicher.
Anerkennung und Teilhabe
„Bürgerschaftliches Engagement in den Kommunen ist ein eigener Wert und kein Ersatzdienst für finanziell klamme Rathäuser“, betont Dr. Christof Eichert, Vorstand der Herbert Quandt-Stiftung. Als ehemaliger Oberbürgermeister und Geschäftsführer in großen Stiftungen kennt er die kommunale Praxis ebenso wie Wissenschaft und Forschung. Auch wenn über viele Jahrzehnte viele Mitarbeiter der Rathäuser eine „Kultur der Fürsorge für die Bürger“ entwickelt hätten, müssten sie nun umdenken und sich als Dienstleister einer selbstbewussten Bürgerschaft verstehen.
Eichert betonte in der Diskussion um Zivilgesellschaft und Kommunen auch die Partizipationsfrage: „Politische Mitwirkung und Teilhabe darf es für den Bürger nicht nur an Wahltagen geben“, so seine Forderung. „Das Ermöglichen, ja die Kunst der Begegnung sowie eine neue Gesprächskultur“ gehören für Eichert auf die Tagesordnung, wenn Strategien für das Ehrenamt entwickelt werden. Dem stimmt auch Franz-Reinhard Habbel, Pressesprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebundes zu: „Wir müssen unsere Silos verlassen, um den Dialog zwischen den Bürgern und den Verwaltungen herzustellen.“ Nach seiner Meinung gilt es dafür „Ermöglichungsorte zu schaffen. Wir sind auf dem richtigen Weg, denn die neue Botschaft lautet: Vom Vater Staat zum Bürgerstaat!“.
Digitalisierung und die junge Generation
Der Wandel im Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Bürger ist für Habbel nicht nur an Finanzfragen geknüpft, „sondern er muss zuerst im Kopf entstehen“. Vor diesem Hintergrund sprach er auch die neuen Formen der sozialen Netzwerke im Internet an: „Hier erreichen wir die jungen Leute“, betont Franz-Reinhard Habbel. Dem stimmte Dina Neufeld in der abschließenden Diskussion zu. „Crowdfunding, Facebook-Arbeit, Twitter, globale Vernetzung, soziale Aktionen im Netz – das ist für junge Leute meiner Generation interessant“, stellt sagt die angehende Bildungswissenschaftlerin heraus, die gerade ein Praktikum bei der Bundeskoordination der UNESCO-Projektschulen absolviert. „Ist denn der Nahraum für Sie und ihre Altersgenossen überhaupt noch von Bedeutung, in dem sich klassischerweise Engagement-Bereitschaft formt?“, wollte die Moderatorin der Fachtagung - Susanne Führer vom Deutschland Radio - wissen. „Wir haben neue Foren geschaffen, um zu diskutieren. Es gibt durch das Internet erweiterte Dimensionen auch für die Zivilgesellschaft. Meine Generation will partizipieren und mit verändern – egal ob im Netz oder vor Ort“, sagt die junge Frau selbstbewusst.
Hoffnungen und Erwartungen
„Nur mit einem Kinder- und Jugendwahlrecht wird die Partizipation voll gelingen“, kommt ergänzend dazu eine Meinungsäußerung aus dem Publikum. „Manchmal gibt es hohe Erwartungen und Hoffnungen auf die Zivilgesellschaft – vielleicht sogar zu hohe“, meint Johannes Stemmler von der Leibnitz-Gemeinschaft, der gerade seine Doktorarbeit zum Thema Bürgerengagement erfolgreich abgeschlossen hat. Er plädiert dafür „sich die Erfolgsgeschichten zu erzählen und voneinander zu lernen“. Genau das passierte auf der Fachkonferenz zu „Zivilgesellschaft und Kommunen“ in Berlin vorbildlich.