Frankfurter Rundschau: Herr Landsberg, die vergangene Woche hat viele erfreuliche Nachrichten gebracht. Die Konjunktur läuft an, der Staatshaushalt macht Überschüsse. Konnten Sie sich auch freuen?
Dr. Gerd Landsberg: Das Plus im Staatshaushalt freut mich sehr. Insgesamt sind es ja im ersten Halbjahr etwa 8,5 Milliarden für Bund, Länder und Sozialkassen. Davon entfallen auf die Kommunen immerhin etwas über fünf Milliarden Euro, also haben wir mehr eingenommen als ausgegeben. Das ist erfreulich. Ich warne allerdings, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, die kommunalen Probleme seien gelöst. Das ist mitnichten der Fall.
Fünf Milliarden Euro Überschuss, und trotzdem erwarten drei von fünf Kommunen in diesem Jahr Verluste. Wie passt das zusammen?
Es gibt große Diskrepanzen bei der Finanzsituation der einzelnen Kommunen. Wir haben eine ganz starke Spreizung zwischen Kommunen, denen es sehr gut geht und anderen, denen es sehr schlecht geht, die also in der Abwärtsspirale sind. Das ist ein zentrales Problem, das aus meiner Sicht nur zu lösen ist mit einer grundlegenden Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Wie hoch sind die Schulden der Kommunen?
Wir schieben einen Schuldenberg von insgesamt 133 Milliarden Euro vor uns her. Die Kassenkredite – die entsprechen ungefähr dem Dispo einer Privatperson – sind stark gestiegen und liegen aktuell bei 48 Milliarden Euro. Hinzu kommt ein Investitionsstau, der laut Förderbank Kfw ein Volumen von 128 Milliarden Euro hat. Jeder sieht das, Straßen, Wege, Plätze, es wird überall nur geflickt, aber nicht renoviert. Das einzige, in das wir nachhaltig investiert haben, ist die Kinderbetreuung. Der jetzige Haushaltsüberschuss ist also teilweise durch Verzicht auf notwenige Investitionen teuer erkauft.
Die Wirtschaft läuft wie geschmiert, die Einnahmen sprudeln. Können die Kommunen nicht wirtschaften?
Ich nehme mal ein ganz einfaches Beispiel: Essen hat 2,3 Milliarden Euro Kassenkredite. Das ist mehr als alle Städte in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen zusammen haben. Natürlich spürt auch Essen die positive Entwicklung. Aber das bedeutet, dass am Ende des Jahres wahrscheinlich 100 Millionen Miese stehen werden statt der 400 Millionen Euro vor drei Jahren. Da sage ich: Ob sie zwanzig oder zehn Meter unter Wasser sind, das spielt keine Rolle. Ertrinken tun sie auf jeden Fall, wenn sie nicht bald mal auftauchen.
Und so wie in Essen sieht es in so vielen anderen Kommunen auch aus? Viele Kommunen müssen immer neue Kassenkredite aufnehmen und haben keine Spielräume für Investition und Gestaltung des Lebens vor Ort.
Was bedeutet es für eine Kommune, wenn sie zu viele Schulden hat?
Es setzt sich eine Abwärtsspirale in Gang. Gerade Städte, denen es nicht gut geht, haben häufig wenig Wirtschaft und eine relativ hohe Arbeitslosigkeit. Das führt dazu, dass sie nicht investieren und damit auch nicht attraktiv sein können für Unternehmen. Also ziehen die Unternehmen weg oder kommen gar nicht erst. Mit ihnen wandern die Bürger ab. Die Einnahmen sinken weiter.
Die Ausgaben bleiben konstant oder steigen sogar.
Denn die Betriebskosten für eine Bibliothek oder ein Schwimmbad oder das Straßennetz verändern sich kaum, wenn weniger Menschen sie nutzen.
Also bleibt irgendwann nur noch die Schließung.
Was aber gefährlich ist. Es gibt längst eine gewisse Konkurrenz zwischen Städten. Gerade interessante Unternehmen wollen natürlich ein Umfeld, in dem ihre Mitarbeiter und deren Kinder sich wohl fühlen mit einer guten Schule, einem Schwimmbad, einem Kultur- und Freizeitangebot. Insofern ist es auch gefährlich, diese Dinge zu streichen und zu reduzieren, weil dass das Leben in der Stadt und damit langfristig den Erfolg einer Stadt in Frage stellt.
Wo wird zuerst gespart?
Beim Personal, wo wir längst an der Schmerzgrenze sind, dann bei freiwilligen Aufgaben, also Zuschüssen für Vereine, bei zusätzlichen Angeboten für Kinder, Jugendliche, alte Leute. Nur wird das Problem so nicht gelöst. Denn in vielen Kommunen sind mehr als 90 Prozent der Ausgaben gesetzlich vorgeschrieben. Sie können nicht sagen: Ich bin hochverschuldet, jetzt kürze ich mal die Sozialausgaben. Das dürfen Sie nicht. Also streichen sie an den weniger als zehn Prozent der Ausgaben herum, über die sie frei verfügen können.
Was muss passieren?
Es braucht ein Entschuldungsprogramm und grundlegende Reformen. Die Kommunen in Deutschland finanzieren zum Beispiel weitgehend mit insgesamt 14 Milliarden Euro die Eingliederungshilfe für Behinderte. Das ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und keine Aufgabe der Kommunen. Denn ob Sie oder ich behindert sind, das hat ja mit der Kommune nichts zu tun. Deswegen brauchen wir hier ein Bundesleistungsgesetz.
Wir warnen vor immer neuen Leistungsversprechungen an die Bürger. Wir können nicht mit immer weniger jungen Menschen für immer mehr ältere noch bessere und zusätzliche Leistungen erwirtschaften. Auch die immense Staatsverschuldung müssen wir im Auge behalten. Wir sind in diesem Land mit 2,3 Billionen verschuldet, tragen pro Tag 170 Millionen Euro Zinsen bei einem historisch niedrigen Zinssatz und auch das wird vermutlich nicht ewig so bleiben.
Sie haben das Thema Entschuldung angesprochen. Wie soll so ein Entschuldungsprogramm aussehen?
In NRW haben die Kommunen insgesamt 23 Milliarden Euro Kassenkredite, dort gibt es einen Stärkungspakt über den besonders hoch verschuldete Kommunen zusätzliche Mittel bekommen. Das machen auch andere Länder, teilweise in anderer Form. Das ist sicherlich ein richtiger Ansatz. Aber die strukturelle Unterfinanzierung, die aus dem Sozialsystem herzuleiten ist, die wird dadurch nicht beseitigt, deshalb braucht es diese zusätzliche Reform, sonst werden wir die Kommunen nicht erfolgreich entschulden können.
Was wird das Kosten?
Das ist ganz schwer zu sagen. Aber nehmen Sie mal die Eingliederungshilfe. Wenn der Bund die in ein Bundesleistungsgesetz überführen würde, darauf hat man sich im Rahmen des Fiskalpakts eigentlich verständigt, wären das immerhin schon mal 14,4 Milliarden Euro. Das wäre sicherlich ein ganz deutliches Zeichen. Die Ausgabenposten der Kommunen müssen verkleinert werden, immer nur auf die Einnahmen zu gucken, ist falsch.
Sie halten nichts davon, dass Ernst&Young vorschlägt, die Gebühren zu erhöhen?
Das ist meiner Ansicht nach ein ganz schlechter Hinweis: Erstens können Sie Gebühren nicht einfach erhöhen, da gilt das Äquivalenzprinzip. Das heißt, sie dürfen nur das nehmen, was sie tatsächlich ausgeben. Und zweitens ist das eine Frage von Sozialstandards. Sie können keine kostendeckenden Kindergartengebühren erheben, denn dann würde der Kindergarten wahnsinnig teuer. Das gleiche gilt für das Schwimmbad. Wir müssen schon auch eine Grundausstattung an Daseinsfürsorge zu vertretbaren Preisen bieten.
Es gibt eben auch soziale Aspekte, wo man Gebühren nicht erhöhen will oder kann. Wir wollen doch, dass Kinder und Jugendliche Bücher ausleihen in der Stadtbibliothek. Wollen sie da fünf Euro pro Buch nehmen? Nein, und das ist auch richtig so.
Rein theoretisch: Wie stark müsste man die Gebühren erhöhen, damit die Kommunen keine Verluste mehr machen?
Mit Gebührenerhöhungen können sie einen Kommunalhaushalt überhaupt nicht sanieren. Man muss eben sehen, dass die Gebühren im Haushalt einer Kommune lediglich zwischen 13 und 17 Prozent ausmachen. Mit höheren Gebühren sanieren sie eine Kommune also ganz sicher nicht.
Sie haben die fehlenden Investitionen angesprochen, die sich zwar positiv im Staatshaushalt bemerkbar machen, letztlich aber als Basis für die Zukunft fehlen. Wo müsste investiert werden?
Die Straßeninfrastruktur ist in einem desolaten Zustand. Konjunktur haben Tempo-30-Zonen und Straßenschilder, auf denen „Vorsicht Straßenschäden“ steht. Die Eltern erwarten zurecht auch, dass es mehr und schönere Kindergärten gibt und energetisch sanierte Schul- und Verwaltungsgebäude. Auch da haben wir einen riesigen Nachholbedarf. Eine Infrastrukturoffensive muss kommen.
Wo soll das Geld herkommen?
Unsere Investitionsquote liegt im europäischen Vergleich weit unten, obwohl es uns so gut geht. Wir müssen in der neuen Legislaturperiode dafür sorgen, dass darauf die politische Aufmerksamkeit gelenkt wird.
Wie fühlen sich die Kommunen vom Bund und Ländern eigentlich behandelt? Die Probleme sind seit Längerem bekannt, auch die Schuldenspirale, in denen sich eine Vielzahl von Kommunen befindet. Man hat den Eindruck, dass die Sorgen und Nöte der Kommunen nicht so richtig ernst genommen würden.
Also, da würde ich widersprechen. Nehmen Sie mal den Zeitraum der letzten acht bis zehn Jahre. Auf einmal sind klassische Kommunalthemen auch Themen der Bundespolitik: Kinderbetreuung, Grundsicherung im Alter, schulische Bildung, Ganztagsschule. Dass das finanziell nicht immer so hinterlegt ist, wie wir uns das wünschen, ist auch klar. Aber wir fühlen uns ernst genommen.
Heißt das, dass Sie etwa ganz zufrieden sind?
Also ich bin immer erst dann zufrieden, wenn es allen Kommunen gut geht. Das ist mein Job. Aber ich finde, dass wir auf einem guten Weg sind. Und ich bin eigentlich ganz hoffnungsfroh, dass wer auch immer ab dem 22. September dieses Land regiert, keine Politik gegen die Kommunen machen wird. Das wäre zum Scheitern verurteilt.