Reformbedarf und Zukunftsperspektiven - Kommunalforum diskutiert Ausrichtung der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik

v.l.n.r.: Dr. Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des DStGB, Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales und Roland Schäfer, Bürgermeister Bergkamen und Präsident des DStGB

Ein besonderes Format hatte der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB) gewählt, um den 60. Geburtstag seines Hauptgeschäftsführers Dr. Gerd Landsberg zu feiern. In einem Kommunalforum beschäftigten sich der kommunale Spitzenverband und der Innovators Club des DStGB mit zukunftsweisenden politischen Themen: „Wie wollen wir morgen leben und arbeiten?“ lautete eine der Leitfragen der Veranstaltung. Mögliche Perspektiven der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik wurden ebenso erörtert wie gesellschaftliche Veränderungen durch den demografischen Wandel. Dass diese Themen eine herausragende Bedeutung haben, wurde am Teilnehmerfeld deutlich: Rund 120 hochrangige Vertreter aus dem Deutschen Bundestag, aus Ministerien, Verbänden und Organisationen und vor allem aus Städten und Gemeinden fanden sich im November im Berliner dbb-Forum zusammen.

Roland Schäfer, Bürgermeister von Bergkamen und Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, würdigte in seinem Grußwort die Leistungen Landsbergs. Es sei ganz sicher auch dessen Verdienst, dass man in Berlin in zentralen Politikbereichen wie etwa demografischer Wandel, Familienpolitik, Energiepolitik, Arbeitsmarktpolitik, Bewältigung der Schuldenkrise und Bürgerengagement die Städte und Gemeinden heute viel stärker einbinde und beachte. Landsberg empfinde seine Funktion nicht als Beruf, sondern als Berufung.  Dies zeige sich auch daran, dass er vorgeschlagen habe, die Feierlichkeiten anlässlich seines Geburtstages mit dem Sachthema „Perspektiven von Arbeits- und Sozialpolitik zu verbinden. Schäfer zeigte in seiner Ansprache zudem die Ausgangslage aus kommunaler Sicht auf. Auch wenn in Deutschland die Arbeitslosigkeit sinke und das Land als Stabilitätsanker in Europa bezeichnet werden könne, seien aus Sicht des DStGB grundlegende Reformen erforderlich, um den Wohlstand zu sichern und das Sozialsystem zukunftsfest zu gestalten. Trotz des guten Wirtschaftswachstums kämen die staatlichen Haushalte nicht ohne neue Schulden aus. Schäfer wies darauf hin, dass die Sozialausgaben der Kommunen in diesem Jahr weiter zunähmen und erstmalig die 45-Milliarden-Euro-Grenze überschreiten würden. Deshalb fordere der DStGB eine Agenda 2020, die über eine Kostenverschiebung zwischen den föderalen Ebenen hinausgehen müsse. So müssten die sozialen Leistungen neu geordnet, auf die wirklich Bedürftigen konzentriert, entbürokratisiert und transparent gestaltet werden. Zum Teil könne man von einem regelrechten Sozialdickicht sprechen. So gebe es beispielsweise über 152 familienpolitische Leistungen in unterschiedlichster Höhe und Zielrichtung mit einem Gesamtvolumen von 123 Milliarden Euro jährlich. „Unverzichtbar ist ein Vorrang für Investitionen, zum Beispiel in Bildung, vor höheren Transferleistungen“, so der Präsident.

Dr. Ursula von der Leyen, Bundes-ministerin für Arbeit und Soziales

Eckpunkte künftiger Sozialpolitik

Bundesministerin für Arbeit und Soziales Dr. Ursula von der Leyen nutzte zu Beginn ihres Vortrages die Gelegenheit, Landsberg für die stets konstruktive Zusammenarbeit zu danken. Er sei ein kompetenter Partner in allen politischen Fragen. Sie gewährte in Ihrer Ansprache einen allgemeinen Ausblick auf die Erfordernisse zur Ausrichtung der künftigen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Anhand der Lebensstationen Kindheit, Jugend, „Familienphase“ und Alter zeigte die Ministerin Eckpunkte und Ziele auf. So müsse eine kluge Sozialpolitik Räume der Vernetzung schaffen, in denen Kinder auf andere Kinder treffen könnten. Richtig sei, den Ausbau der frühkindlichen Betreuung voranzubringen und diese Angebote auch als Orte der Bildung zu verstehen. Zunächst gelte es, die Zahl der Betreuungsplätze so zu erhöhen, dass dem Rechtsanspruch genüge getan werde. Dann müsste auch über Qualitätskriterien gesprochen werden. Gleichzeitig warnte von der Leyen davor, Kinderbetreuung und Elternhaus als Gegensatz zu aufzufassen. Diese müssten sich vielmehr ergänzen. Hinsichtlich der Lebensstation „Kindheit“ warb sie zudem dafür, diese nicht in Blöcke nach den Stationen Krippe (erstes bis drittes Lebensjahr), Kindergarten (drittes bis sechstes Lebensjahr) und anschließend die Grundschule bis zum zehnten Lebensjahr einzuteilen, sondern ein Verständnisdenken für das erste Lebensjahrzehnt zu entwickeln.

Die Bundesministerin setzte in ihrer Rede auch einen Schwerpunkt auf die Lebensphase der Jugend eines Menschen, welche in der öffentlichen Debatte häufig etwas kurz komme. Hier habe Deutschland mit der dualen Ausbildung bereits ein fortschrittliches System, das sich derzeit zum Exportschlager entwickle. Die Phase des Überganges von Schule in den Beruf falle inmitten in die Pubertät und damit in eine besonders komplexe Zeit für einen Menschen. Daher sei es richtig, dass der Bund für Programme zum Berufseinstig, etwa der sogenannten „zweiten Chance“, Geld in die Hand nehme. Dennoch gebe es hier weiteren Handlungsbedarf. Auf kommunaler Ebene fände in diesem Bereich bereits viel statt. Von der Leyen warb dafür, alle Programme besser aufeinander abzustimmen.

Rückenwind für junge Familien

Hinsichtlich des Lebensabschnittes, in dem viele Menschen eigene Familien gründen, unterstrich die Ministerin, dass es nicht nur Geld, Infrastruktur und Zeit bedürfe, um die Menschen hier zu unterstützten. Wichtig sei auch, in unserer Gesellschaft ein entsprechendes Klima zu schaffen. Dieses habe mindestens genauso viel Bedeutung wie eine Infrastruktur für die Kinderbetreuung. „Junge Familien brauchen Rückenwind“, so von der Leyen. Gerade bei der Diskussion um das Betreuungsgeld beobachte sie mit Sorge einen Rückfall in eine polarisierende Debatte, welche junge Frauen in „Rabenmütter“ und „das Heimchen am Herd“ einteile. Zum Klima gehöre auch, mehr Teilzeitarbeit zu ermöglichen. Hier habe Deutschland in Europa die „rote Laterne“.

In Bezug auf das Alter als Lebensphase unterstrich die Bundesministerin, dass Sozialpolitik für Ältere mehr als schlichte „Altenpolitik“ sei. Diese setze bereits früher im Berufsleben an. Achillesferse sei hier beispielsweise nach wie vor die Frage, wie Weiterbildung organisiert werde. Erforderlich sei, Verständnis dafür zu entwickeln, dass ein Fünfzigjähriger anders lerne als ein Zwanzigjähriger. Von der Leyen bediente sich dabei eines plastischen Beispiels aus der Forschung: Ein sechzigjähriger Deutscher, der sich in eine Japanerin verliebe, könne auch in diesem Alter noch die japanische Sprache lernen. Die Schlüsselfrage, so die Ministerin, sei die Ansprache der Älteren.

Zu dieser Lebensphase gehöre schließlich auch, über die Zukunft des Rentensystems zu sprechen. Von der Leyen betonte diesbezüglich, dass sich Lebensleistung lohnen müsse und forderte eine aufrichtige Debatte hinsichtlich der Umsetzung einer neuen Rentenregelung.

v.l.n.r.: Roland Schäfer, Präsident DStGB, Franz Müntefering, Bundesminister a.D., Franz-Reinhard Habbel, Sprecher DStGB, Marie-Christine Ostermann, Bundesvorsitzende BJU und Heinrich Alt, Vorstandsmitglied Bundesagentur für Arbeit

Wie wir morgen leben und arbeiten

Die anschließende Podiumsdiskussion stand unter dem Titel „Wie wir morgen leben und arbeiten“ und beleuchtete verschiedene Aspekte zukünftiger Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Unter der Moderation von Franz-Reinhard Habbel, Sprecher des DStGB, diskutierten Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Franz Müntefering, ehemaliger Bundesarbeitsminister, Marie Christine Ostermann, Bundesvorsitzende des Verbandes „Die Jungen Unternehmer“ sowie DStGB-Präsident Roland Schäfer. Im Mittelpunkt der Gesprächsrunde standen der demografische Wandel, notwendige Reformen im Bereich der Sozialpolitik und die zukünftige Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik.

Heinrich Alt machte deutlich, dass es eine zentrale Aufgabe für die Zukunft sei, die vorhandenen Kräfte auf eigentlich wesentliche Tätigkeiten zu konzentrieren: „Wir verschwenden zu viele Ressourcen für die Bürokratie“, stellte er fest. Ursprünglich habe man den Bürokratieaufwand im Bereich der Arbeitsvermittlung auf 15 Prozent geschätzt, nun müsse man feststellen, dass er annähernd 50 Prozent ausmache. Diesen Zustand zu verändern komme nicht nur seinem Haus zugute, sondern auch unmittelbar den Arbeitssuchenden selbst. Es habe sich gezeigt, dass deren Chancen am Arbeitsmarkt entscheidend von sozialen Beziehungen abhängen. Er halte es für deutlich sinnvoller, dass Arbeitssuchende ihre Energie in den Aufbau eines sozialen Netzwerkes investierten anstatt in das Ausfüllen seitenlanger Anträge.

Roland Schäfer pflichtete ihm bei. „Natürlich haben wir insgesamt zu viele Regelungen“, so der Bergkamener Bürgermeister. Zwar sei ihm bewusst, dass es unheimlich schwierig sei, bestehende Standards und Leistungen zu durchforsten und auf nicht unbedingt notwendige Regelungen zu verzichten. Es sei dennoch zwingend notwendig, dieses Ziel zu verfolgen, auch wenn es viele Beharrungskräfte gebe. „Wir müssen an dem Thema Sozialdickicht dranbleiben“, appellierte Schäfer.

Sozialstaat und soziale Gesellschaft

Alle Diskutanten waren sich darin einig, dass der demografische Wandel sowohl für die Sozialpolitik als auch für den Arbeitsmarkt eine besondere Herausforderung darstelle. „Viele Unternehmen leiden bereits jetzt unter Fachkräftemangel“, stellte Marie-Christine Ostermann fest. Daher müsse es das Ziel sein, ältere Arbeitnehmer möglichst lange im Betrieb zu halten, forderte die Unternehmerin.

Franz Müntefering unterstützte diese Forderung, gab aber zu bedenken, dass die Realität vielerorts anders aussehe. Gerade bei der Beschäftigung älterer Menschen müsse ein Umdenken einsetzen, hier sei auch die Politik gefordert. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Älteren nicht rausgeschoben werden.“ Müntefering sah aber nicht nur die Politik in der Pflicht, die künftigen Herausforderungen zu bewältigen: „Neben dem Sozialstaat muss es auch eine soziale Gesellschaft geben“. Der ehemalige Bundesarbeitsminister betonte, dass die demografischen Veränderungen in vielen Bereichen gravierende Auswirkungen auf die Lebens- und Arbeitswelt haben werden. Dies stelle insbesondere die Kommunen vor die gewaltige Aufgabe, diesen Umbruch vor Ort zu bewältigen. Allerdings bringe dies auch einen Bedeutungszuwachs für Städte und Gemeinden mit sich, der sich auch in der Politik wiederspiegeln müsse. „Städte und Gemeinden müssen gleichberechtigt mit am Tisch sitzen“, forderte Müntefering.

In der Runde bestand Einigkeit, dass die Aufgaben im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik gewaltig sind und nur im Zusammenwirken aller staatlichen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – bewältigt werden können. Dazu sei ein Umdenken erforderlich. Die Ressourcen müssen gebündelt und zielgerichtet eingesetzt werden und bislang brachliegende Potenziale, vor allem bei der älteren Generation, genutzt werden, wenn Deutschland erfolgreich bleiben wolle.

Dr. Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des DStGB

Kommunale Spitzenverbände als Reformmotoren

Landsberg dankte den Teilnehmern des Forums und skizzierte anschließend die Rolle, die ein kommunaler Spitzenverband seiner Ansicht nach ausfüllen müsse: „Dem Bürger ist die Ausgestaltung der Aufteilung der Finanzlasten zwischen Bund, Ländern und Kommunen ohnehin gleichgültig. Er erwartet von seinem Staat eine angemessene Leistung. So bedeutend diese „internen Verteilungskämpfe“ sind, so wichtig ist es aus meiner Sicht, dass sich kommunale Spitzenverbände auch als Reformmotoren verstehen und in der Öffentlichkeit und in der Politik für Reformen werben. Sie können das häufig einfacher als Politiker, die in viel größerem Umfang unter dem Druck der nächsten Wahl, unter der Erwartungshaltung der Wählerinnen und Wähler und häufig auch unter dem Druck der eigenen Partei stehen. Deswegen, meine Damen und Herren, bin ich zutiefst überzeugt, dass die heutige Veranstaltung auch insoweit ein positives Signal ist.“

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